EuGH-Urteil: Deutsche Regelung zur allgemeinen Kundenanlage ist unionsrechtswidrig - Jede Leitungsinfrastruktur, über die Dritte beliefert werden, ein reguliertes Netz?
Das mit Spannung erwartete Urteil des EuGH (Az. C-293/23, Link zu den Entscheidungsgründen: CURIA - Dokumente) zur Kundenanlage hat für großes Aufsehen in der Energie-Branche gesorgt. Eine solche Ausnahme ist mit den Vorgaben der Richtlinie (EU) 2019/944 (im Folgenden „Richtlinie“) unvereinbar. Die Entscheidung wird erhebliche Auswirkungen haben, u.a. auf die Gestaltung von dezentralen Versorgungskonzepten.
Das Kundenanlagen-Privileg
§ 3 Nr. 24a EnWG definiert Kundenanlage als Energieanlagen zur Abgabe von Energie- die sich auf einem räumlich zusammengehörenden Gebiet befinden oder bei der durch eine Direktleitung nach § 3 Nr. 12 EnWG mit einer maximalen Leitungslänge von 5.000 Metern und einer Nennspannung von 10 bis einschließlich 40 Kilovolt Anlagen nach § 3 Nr. 1 EEG angebunden sind,
- mit einem Energieversorgungsnetz oder mit einer Erzeugungsanlage verbunden sind,
- für die Sicherstellung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs bei der Versorgung mit Elektrizität und Gas unbedeutend sind und
- jedermann zum Zwecke der Belieferung der angeschlossenen Letztverbraucher im Wege der Durchleitung unabhängig von der Wahl des Energielieferanten diskriminierungsfrei und unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden.
Kundenanlagen sind nach § 3 Nr. 24b EnWG auch Energieanlagen zur betrieblichen Eigenversorgung mit Energie, die sich in einem räumlichen Zusammenhang befinden.
Gem. § 3 Nr. 16 EnWG sind Kundenanlagen i.S.d. § 3 Nr. 24a EnWG nicht Bestandteil eines Energieversorgungsnetzes und die Betreiber von Kundenanlagen dementsprechend nicht als Verteilernetzbetreiber gem. § 3 Nr. 3 EnWG anzusehen. Kundenanlagenbetreiber sind damit von den Pflichten für Verteilernetzbetreiber gem. §§ 11 ff. EnWG ausgenommen. Sie unterliegen im Gegensatz zu Betreibern von Energieversorgungsnetzen nicht der Regulierung nach dem EnWG.
Auf der anderen Seite ist die Nutzung von Kundenanlagen netzentgeltbefreit, was gerade für die Wirtschaftlichkeit von dezentralen Versorgungslösungen eine entscheidende Bedeutung hat.
Die Entscheidung des EuGH
Laut EuGH sind Art. 2 Nr. 28 und Nr. 29 sowie At. 30 bis 39 der Richtlinie„dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der ein Unternehmen, das anstelle des bisherigen Verteilernetzes eine Energieanlage einrichtet und betreibt, um mit in einem Blockheizkraftwerk erzeugtem Strom mit einer jährlichen Menge an durchgeleiteter Energie von bis zu 1.000 MWh mehrere Wohnblöcke mit bis zu 200 Wohneinheiten zu versorgen, wobei die Kosten der Errichtung und des Betriebs der Energieanlage von den Letztverbrauchern getragen werden, die Mieter dieser Wohneinheiten sind, und dieses Unternehmen den erzeugten Strom an diese Verbraucher verkauft, sofern diese Anlage dazu dient, Elektrizität mit Hoch‑, Mittel- oder Niederspannung weiterzuleiten, um sie an Kunden zu verkaufen und keine der in dieser Richtlinie ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen oder Freistellungen von diesen Verpflichtungen anwendbar ist, nicht den Verpflichtungen eines Verteilernetzbetreibers unterliegt.“
Diese Entscheidung begründete der EuGH wie folgt.
1. Verteilernetz i.S.d. Richtlinie
Als Verteilernetz i.S.d. Richtlinie gelte ein Netz, das zur Weiterleitung von Elektrizität mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung dient, die zum Verkauf an Großhändler und Endkunden bestimmt ist.Die einzigen Kategorien, die für die Einordnung als Verteilernetz nach der Definition maßgeblich sind, seien somit die Spannungsebene und die Art der Kunden, die mit der Elektrizität versorgt werden.
Keine Rolle spielten hingegen der Zeitpunkt der Errichtung eines Netzes oder die Einordnung in eine vom Mitgliedstaat selbst gewählte Kategorie wie die der Kundenanlage in § 3 Nr. 24a EnWG. Es sei außerdem irrelevant, ob das Netz von einem privaten Rechtsträger betrieben wird, an das Netz eine begrenzte Anzahl von Erzeugungs- und Verbrauchseinheiten angeschlossen sind, wie groß das Netz ist, welchen Stromverbrauch es hat, dass es sich bei den Stromerzeugungsanlagen um BHKW handelt und die Anlagen unentgeltlich zur Verfügung stehen.
Da die Definition der Verteilernetze i.S.d. Richtlinie von besonderer Bedeutung sei, um die Ziele der Richtlinie zu erreichen, insbesondere die Hindernisse für die Vollendung des Elektrizitätsbinnenmarktes abzubauen, seien die Mitgliedstaaten verpflichtet, das Verteilernetz ebenfalls lediglich an den beiden von der Richtlinie genannten Kriterien Spannungsebene und Kunden-Kategorie zu definieren. Die Mitgliedstaaten dürften nicht davon ausgehen, dass eine bestimmte Art von Netz, wie etwa eine sogenannte Kundenanlage, wegen selbst festgelegter Kriterien wie in § 3 Nr. 24a EnWG vom Begriff des Verteilernetzes ausgenommen sei.
2. Verteilernetzbetreiber i.S.d. Richtlinie
Als Verteilernetzbetreiber i.S.d. Richtlinie gelte ein Unternehmen, das eine Energieanlage betreibt, die zur Weiterleitung von Elektrizität mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung zwecks Belieferung von Großhändlern oder Endkunden dient.Die Mitgliedstaaten dürften keine davon abweichenden, selbst gewählten Kriterien aufstellen, um bestimmte Personengruppen, wie etwa ein Unternehmen, das zur Versorgung von Wohngebäuden mit Elektrizität eine Energieanlage betreibt, vom Begriff des Verteilernetzbetreibers auszunehmen. Dies sei jedoch im deutschen Recht mit den Regelungen der § 3 Nr. 24a EnWG i.V.m. § 3 Nr. 16 EnWG der Fall, da Betreiber von Kundenanlagen dadurch nicht unter die Vorschriften für Netzbetreiber fielen.
3. Zulässige Ausnahmen i.S.d. Richtlinie
Der EuGH stellt weiterhin klar, dass es in der Richtlinie bereits bestimmte Ausnahmeregelungen gäbe und sich die Mitgliedstaaten keine eigenen Ausnahmen ausdenken dürften.Als Ausnahmen regelt die Richtlinie
- Bürgerenergiegesellschaften
- geschlossene Verteilernetze
- kleine Verbundnetze
- Gebietsausnahmen (Zypern, Luxemburg, Malta und Korsika)
- definierte Einzelfälle mit möglichen Ausnahmen von den Regulierungsanforderungen für Verteilernetzbetreiber (z.B. im Hinblick auf Ladepunkte, Energiespeicheranlagen).
Selbst wenn es für die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie zulässig wäre, eigene Ausnahmen von der Definition des Verteilernetzes zu regeln, verstoße die in § 3 Nr. 24a EnWG geregelte Ausnahme jedoch gegen die Ziele der Richtlinie.
Die Netzbetreiber haben eine besondere Rolle bei der Integration der nationalen Märkte. Dafür wird ein hohes Maß an Zusammenarbeit zwischen nationalen und regionalen Netzbetreibern vorausgesetzt. Durch § 3 Nr. 24a EnWG seien jedoch eine nicht unerhebliche Zahl von Einrichtungen vom Anwendungsbereich des Verteilernetzes und somit auch die Betreiber solcher Einrichtungen von den Pflichten für Verteilernetzbetreiber ausgenommen, obwohl diese Anlagen für den europäischen Markt insgesamt durchaus von Bedeutung seien. Dadurch würden die Ziele der Richtlinie gefährdet.
Welche Folgen hat das EuGH-Urteil?
Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es im Einzelnen noch einer genaueren Analyse.Nach unserer ersten Einschätzung wird das Urteil aber grundlegende Fragen u.a. für bereits bestehende oder geplante dezentrale Versorgungskonzepte haben. Zwar wird mit dem Urteil vom EuGH zunächst nur eine Auslegungsfrage zu dem vom BGH im konkreten Ausgangsfall vorgelegten Frage in Bezug auf den konkreten Sachverhalt des Ausgangsfalls, gegeben. Das EuGH-Urteil hat damit zunächst nur für das vorlegende Gericht im streitigen Sachverhalt eine Bindungswirkung.
Die Auslegungskriterien entfalten darüber hinaus auch eine Bindungswirkung für alle anderen Gerichte und auch Behörden. Es ist daher zu erwarten, dass Behörden und Gerichte, die in Zukunft über Anträge und Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit Kundenanlagen zu entscheiden haben, sich an dem Urteil des EuGH vom 28. November 2024 orientieren werden. Hierfür spricht auch, dass die Entscheidungsgründe des EuGH sehr allgemein sind und sich ganz grundsätzlich mit dem Kundenanlagenbegriff gem. § 3 Nr. 24a EnWG und dessen Vereinbarkeit mit der Richtlinie beschäftigen.
Unter anderem folgende Fragen stellen sich nach dem Urteil:
- Sind alle Anlagenbetreiber von elektrischen Infrastrukturen als Verteilernetzbetreiber einzuordnen und müssen die Pflichten gem. §§ 11 ff. EnWG erfüllen?
- Sind nach dem EuGH-Urteil sämtliche Kundenanlagen-Konstellationen unzulässig oder gilt dies nur, wenn über die Kundenanlage eine Belieferung von Dritten in einem bestimmten Umfang erfolgt?
- Sind von der Aussage des Urteils auch die Kundenanlagen zur betrieblichen Eigenversorgung gem. § 3 Nr. 24b EnWG (d.h. wenn im Wesentlichen nur eine Eigenversorgung durchgeführt wird) erfasst oder ist diese Konstellation auch nach Maßgabe der Richtlinie weiter zulässig?
- Lässt sich im Einzelfall begründen, dass die eigene Kundenanlage unter einen in der Richtlinie genannten Ausnahmetatbestand fällt und damit „gesichert“ ist?
- Sollten geplante dezentrale Versorgungskonzepte zunächst ausgesetzt und ggf. umgeplant werden?
- Welche Sanktionen drohen, wenn man bisherige Kundenanlagen entgegen der Entscheidung des EuGH unverändert laufen lässt?